Wie wichtig ist die Penisgröße für die Frau?

  • Ulrich Clement
    Prof. Dr. Ulrich Clement ist
    systemischer Paartherapeut und Sexualforscher. Zuletzt ist sein neustes
    Buch "Think Love. Das indiskrete Fragebuch"
    bei Rogner & Bernhard erschienen. In Heidelberg betreibt Ulrich
    Clement eine Privatpraxis für Coaching, Paar- und Sexualtherapie.



    ZEITmagazin Online: Woran denkt eine Frau während ihres Orgasmus?


    Ulrich Clement: Es gibt nichts, woran sie nicht
    denken könnte – von "das wundervollste Erlebnis meines Lebens" bis hin
    zu "hoffentlich ist es bald vorbei".


    ZEITmagazin Online: Das kann sie tatsächlich auch bei ihrem eigenen Höhepunkt denken?


    Clement: Oh ja. Ein Orgasmus ist nicht immer
    die grandiose Ganzkörpervibration. Es gibt auch den mickrigen Orgasmus,
    der zwar physiologisch und rein funktionell stattfindet, aber nur ein
    banales Gefühl hinterlässt. Der Orgasmus bleibt dabei gewissermaßen an
    der genitalen Peripherie. Es fehlt das Ergriffensein. Wobei dies das
    Erleben und nicht das Denken betrifft. Denken kann die Frau dabei an
    alles. Sogar an die Einkaufsliste.


    ZEITmagazin Online: Denken und weiblicher Orgasmus sind also nicht getrennt?


    Clement: Auch wenn das Gerücht umgeht, dass man
    beim Orgasmus an gar nichts mehr denkt, sondern nur noch fühlt, ist dem
    nicht so. Die Gedanken treten höchstens für die wenigen Sekunden des
    Höhepunkts hinter das körperliche Erleben zurück. Es ist allerdings auch
    ein schöner Moment, wenn das reine Körpergefühl in den Vordergrund
    rückt.


    ZEITmagazin Online: Das ist schon auch bei Frauen so?


    Clement: Ja. Aber man muss dazu sagen, dass im
    Vergleich zu Frauen Männer sich in ihrem Orgasmusmuster untereinander
    stärker ähneln. Die meisten haben während des Verkehrs einen Orgasmus,
    die wenigsten haben einen multiplen Orgasmus, der ist äußerst selten bei
    Männern. Unter Frauen gibt es beide Extreme, und zwar durchaus häufig.
    Viele Frauen haben während des Verkehrs keinen Orgasmus, nicht wenige
    können mehrfache haben. Deshalb ist es schwieriger als bei Männern,
    Aussagen zu treffen, die auf alle Frauen zuträfen.


    ZEITmagazin Online: Nun, immerhin sagten 94
    Prozent in einer Umfrage unter 1.000 Frauen zwischen 18 und 85 zum Thema
    weiblicher Orgasmus, dass es ihnen nicht auf die Größe des Penis
    ankommt.


    Clement: Das bedeutet aber auch, dass für immerhin sechs Prozent die Größe wichtig ist.


    ZEITmagazin Online: Dabei wollte ich mit dem
    Zitieren der Umfrage gerade den Druck rausnehmen – Männer, macht euch
    nicht verrückt, darauf kommt es nicht an.


    Clement: Es galt lange das Gerücht, die
    Penisgröße sei unwichtig. Das ist in dieser Absolutheit aber ebenso
    falsch, wie wenn man sagte, sie sei total wichtig. Es gibt Frauen, für
    die ist die Größe relevant, und das sind offenbar sechs Prozent. Diese
    Frauen haben genauso recht wie die 94 Prozent, für die das keine so
    große Rolle spielt. Die Relevanz von Größen entspringt übrigens nicht
    nur westlichem Leistungsdenken. Im Kamasutra wird sowohl zwischen
    unterschiedlichen Penisgrößen – Hase, Stier, Hengst – unterschieden als
    auch nach Vaginalgrößen – Elefantenkuh, Stute, Gazelle. Und für jede
    anatomische Kombination gibt es bestimmte Passungen.



    ZEITmagazin Online: Im Gegensatz dazu scheinen
    sich bei uns vor allem Männer mit Fragen nach Größe, Umfang und
    Beschaffenheit ihres Genitals zu beschäftigen.


    Clement: In der Tat hat die eigene genitale
    Anatomie für Frauen lange nicht die überdimensionierte Bedeutung, die
    sie für Männer hat. Wobei unter jüngeren Frauen das Aussehen etwa der
    Schamlippen inzwischen eine gewisse Rolle spielt.


    ZEITmagazin Online: Der Berufsverband der deutschen Frauenärzte sieht bei vielen Frauen zumindest Bedenken, was das Aussehen oder die Größe ihrer Vagina angeht.


    Clement: Das ist aber neu und ich halte es nach
    wie vor für eine Modeerscheinung, getriggert durch die größere
    Sichtbarkeit aufgrund von Intimrasur. Angst vor einer zu großen Vagina
    haben vor allem Männer, das ist bekannt als Lost-Penis-Syndrom.


    ZEITmagazin Online: Mich hatte dennoch die
    geringe Zahl von sechs Prozent der Frauen, die Größe für relevant
    halten, überrascht, gerade weil das Thema in der männlichen Wahrnehmung
    so präsent scheint.


    Clement: Nun, so überraschend ist es eigentlich
    nicht, dass für die meisten Frauen der Mann, der am Penis dranhängt,
    wichtiger ist, als der Penis, der am Mann dranhängt.


    ZEITmagazin Online: Womit wir bei den 94
    Prozent sind ... Offensichtlich kommt es auf dem Weg zum weiblichen
    Orgasmus Frauen auf ganz viel anderes an. Fangen wir etwa mit dem Geruch
    an. Der ist laut einer Studie der Berliner Charité für die meisten Frauen das Wichtigste.


    Clement: Geruch ist zunächst etwas
    Physiologisches, spielt aber auch eine große metaphorische Rolle. Wie
    gut kann ich den Partner riechen? Wie sehr geht er auf mich ein? Das
    eigentlich Entscheidende ist die Interaktion. Man kann deshalb mit
    Sicherheit sagen: Wenn einer Frau der Geruch des Mannes nicht passt,
    kann er alles andere vergessen. Allerdings gilt ebenso: Wenn der Geruch
    passt, ist noch lange nicht alles gewonnen.


    ZEITmagazin Online: Kurz vor Jahresende ging die amerikanische Website OMGyes online – das steht für "Oh my god, yes!",
    und das Team aus Wissenschaftlern, Designern, Erziehern hat sich zum
    Ziel gesetzt, ein für alle Mal Männern und auch Frauen zu erklären, wie
    der weibliche Orgasmus funktioniert – inklusive Übungen per App. Besteht
    dafür heute noch Bedarf? Mangelt es tatsächlich an technischem Wissen?


    Clement: Man kann das als Mangel auffassen.
    Dabei geht man davon aus, dass ein Bedarf besteht, weil die Leute etwas
    nicht gut können und jetzt dank dieser Seite aufgeklärt werden. Das ist
    eine alte sexualpädagogische, mangelorientierte Lesart. Ich würde es
    anders verstehen, als Spiel. Sex ist ein Optionenfeld, auf dem man
    Verschiedenes ausprobieren kann – auch Dinge, auf die man nicht immer
    gleich von selbst kommt. Als Mann muss ich mich sowieso von einer rein
    mechanischen Herangehensweise lösen und schauen, ob das, was ich tue, in
    dem Moment für die Partnerin passt. Es gibt nicht den ultimativen
    Streichelwinkel, der immer stimmt. Er hängt von der Frau und von der
    Situation ab. Das ist auch gut so, denn sonst wäre ja nichts
    Individuelles mehr im Spiel, man könnte nichts mehr erkunden und
    herausfinden.


    ZEITmagazin Online: Gleichzeitig spiegelt so
    eine Website wider, was Sie vorhin schon angesprochen haben: Dass es
    unter Frauen beim Erleben eines Orgasmus eine größere Diversität gibt
    und dass der Vorgang ziemlich komplex und in seiner Bandbreite weiter
    ist als unter Männern.


    Clement: Der weibliche Orgasmus ist weniger
    vorhersagbar und funktioniert weniger linear als der männliche,
    gewissermaßen schrittweise: Man geht gemeinsam einen Schritt auf ihn zu
    und dann geht es entweder weiter oder auch nicht. Die Frau prüft
    sozusagen immer, ob sie Ja sagt, oder an einem bestimmten Punkt Nein –
    und dann vielleicht doch weiter macht. Das kann Männer verrückt oder
    sogar aggressiv machen. Wenn die nämlich A sagen, denken sie dann auch B
    und danach C. Aber das Besondere an der weiblichen Erotik ist gerade
    dieses genaue Hinschauen beziehungsweise Hinfühlen. Bei Frauen kommt es
    immer darauf an. Nach A kommt vielleicht B, vielleicht aber auch nicht,
    sondern X.


    ZEITmagazin Online: Wenn der Weg zum weiblichen
    Orgasmus so knifflig ist, dann bitte ich Sie als Sexualtherapeuten
    jetzt einfach mal um Rat für Ihre Geschlechtsgenossen.


    Clement: Ganz schön schwierig, in der Tat.
    Nehmen wir zum Beispiel die Klitoris: Einfühlsames Berühren kann
    grundsätzlich zum Orgasmus führen, hingegen kann falsches Berühren, oder
    das richtige Berühren zum falschen Zeitpunkt, jede Erregung zum
    sofortigen Erliegen bringen. Männer können jetzt die Augen verdrehen und
    denken: Das schaffe ich nie! Oder aber sie begreifen es als
    interessante Erkundungstour, bei der sie ihre Partnerin kennenlernen,
    entdecken können und feststellen, dass sie nicht immer so ist, wie sie
    ist. Heute möglicherweise anders als gestern und anders als morgen.
    Eigentlich ist das eine schöne Perspektive, wenn man nicht immer weiß,
    wie sie funktioniert und wie sie auch die restlichen Monate oder Jahre,
    die ich mit ihr zusammen sein werde, funktionieren wird.